Johann Georg Fischer

Sonnenwende

Es hat die Sonne im Glutenkranz
Den höchsten Himmel erstiegen,
Die Auen im Tausendfarbenglanz
Und grünend die Berge liegen.

Hoch quillt die trunkene Erde jetzt
Von schaffendem Leben über;
Wär' ihrem Blühen kein Ziel gesetzt,
Sie täte noch Vieles drüber.

Es rühret der Wald so voll, so weich
Wie eine Jungfrau, die Glieder,
Die Welt durchtönet ein ganzes Reich
Unsagbar mächtiger Lieder;

Und höher immer die Sänger reißt
Des eigenen Liedes Klingen,
Als wollten sie, voll vom tiefsten Geist,
Ihr Herz in die Lüfte singen.

Aufwogen in hoher Mittagsflut
Die glüh'nden, sprühenden Rosen;
Wer dächte zurück bei solcher Glut
An der Veilchen schüchternes Kosen?

Es streckt, was heute auf Erden lebt,
Zum Lichte die höchsten Ranken,
Und zwischen Erde und Himmel schwebt
Der Mensch mit den hohen Gedanken:

Dem ist, o Seele, dieß Wonnemeer
Und all die unendlichen Räume!
Dein ist der Frühling, so blüthenschwer,
Und die irdisch-himmlischen Träume;

Und ewiges Grün und unendliches Blau
Wird Erde und Himmel dir färben,
Und irdische Blüche und himmlischer Thau
Läßt nie deine Jugend sterben!

Stärk', heilige Sonne, mir diesen Traum,
Eh' du dem Abend begegnest,
Und eh' du anderer Lande Saum,
Rückwandelnde, wieder segnest!

Laß nicht dein liebendes Kind nach dir
Ausstrecken die Hand vergebens,
Und halte, du Ewige, fern von mir
Die Sonnenwende des Lebens,

Wo die Erde umher so seltsam schweigt,
An des Baches verblühten Borden
Die Seele ihr Antlitz wundernd neigt,
Wie's schon so stille geworden.

So lang mir der Scheitel von Rosen glänzt,
Und in vollen, goldenen Güssen
Der Lieblichsten Haar mein Haupt umkränzt
Unter wärmen, lebendigen Küssen;

Im Maien des Lebens laß mich schon
Um die Krone des Liedes werben,
Und eh' ich gesungen den letzten Ton,
Am duftigen Morgen sterben!

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