Emanuel Geibel

Aus dem Walde

Mit dem alten Förster heut
bin ich durch den Wald gegangen,
während hell im Festgeläut'
aus dem Dorf die Glocken klangen.

Golden floß ins Laub der Tag,
Vöglein sangen Gottes Ehre,
fast, als ob der ganze Hag
wüßte, daß es Sonntag wäre.

Und wir kamen ins Revier,
wo, umrauscht von alten Bäumen,
junge Stämmlein sonder Zier
sproßten auf besonnten Räumen.

Feierlich der Alte sprach:
»Siehst du über unsern Wegen
hochgewölbt das grüne Dach?
Das ist unsrer Ahnen Segen.

Denn es gilt ein ewig Recht,
wo die hohen Wipfel rauschen;
von Geschlechte zu Geschlecht
geht im Wald ein ewig Tauschen.

Was uns not ist, uns zum Heil
ward's gegründet von den Vätern;
aber das ist unser Teil,
daß wir gründen für die Spätern.

Drum im Forst auf meinem Stand
ist mir's oft, als böt' ich linde
meinem Ahnherrn diese Hand,
jene meinem Kindeskinde.

Und sobald ich pflanzen will,
pocht das Herz mir, daß ich's merke,
und ein frommes Sprüchlein still
muß ich beten zu dem Werke.

„Schütz euch Gott, ihr Reiser schwank!
Mögen unter euren Kronen,
rauscht ihr einst den Wald entlang,
Gottesfurcht und Freiheit wohnen!“

Und ihr Enkel, still erfreut,
mögt ihr dann mein Segnen ahnen
wie's mit frommem Dank mich heut
an die Väter will gemahnen.«

Wie verstummend im Gebet
schwieg der Mann, der tiefergraute,
klaren Auges, ein Prophet,
welcher vorwärts, rückwärts schaute.

Segnend auf die Stämmlein rings
sah ich dann die Händ' ihn breiten;
aber in den Wipfeln ging's
wie ein Gruß aus alten Zeiten.

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