Friedrich Nietzsche

Mädchen-Lied

Gestern, Mädchen, ward ich weise,
gestern ward ich siebzehn Jahr: –
und dem gräulichsten der Greise
gleich' ich nun – doch nicht auf's Haar!

Gestern kam mir ein Gedanke,
– ein Gedanke? Spott und Hohn!
Kam euch jemals ein Gedanke?
Ein Gefühlchen eher schon!

Selten, daß ein Weib zu denken wagt,
denn alte Weisheit spricht:
»Folgen soll das Weib, nicht lenken;
denkt sie, nun, dann folgt sie nicht.«

Was sie noch sagt, glaubt' ich nimmer;
wie ein Floh, so springt's, so sticht's!
»Selten denkt das Frauenzimmer,
denkt es aber, taugt es nichts!«

Alter hergebrachter Weisheit
meine schönste Reverenz!
Hört jetzt meiner neuen Weisheit
allerneuste Quintessenz!

Gestern sprach's in mir, wie's immer
in mir sprach – nun hört mich an:
»Schöner ist das Frauenzimmer,
interessanter ist – der Mann!«

(1882)

entnommen aus:
Friedrich Nietzsche; Götzendämmerung – Der Antichrist - Gedichte; Alfred Kröner Verlag; Leipzig 1930
heute eher zu finden unter: "Aus dem Nachlass" Frühjahr 1882 19[10], KSA Bd. 9, S. 677

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