Ferdinand Avenarius

Theodor

Dem lauten Tag entflohen, kramt ich stumm
in alten Fächern ordnend heut herum
und führt' ein wenig auch den Sinn spazieren
in Kinderzeug, Andenken und Papieren,
wie man ein Weilchen sie zu wahren liebt,
bis man zum Schluß sie doch dem Feuer gibt.
Froh war ich schließlich, daß ich bald zu Ende,
da fiel ein Büchlein noch mir in die Hände,
in dem von einer sauberen Knabenhand
„Erinnerung von Theodor Fischer“ stand
und ein paar Worte, wie an Festestagen
sie zu Geschenken Kinder eben sagen.

Da wuchs aus einem fernen, fernen Grabe
langsam vor meinem Blick herauf ein Knabe.

Er war einst seltsam bei uns eingeführt:
Beim Balgen hatt' ich ihm den Rock zerschlissen –
von seiner Kindesscham hatt' ungerührt
die Mutter ihn zur meinen hingeschickt,
Ersatz zu fordern. Kaum ins Aug geblickt
hatt' ihm die meine, wie er dunkelrot
verlegen stotternd ihr das Röckchen bot,
so hatte sie den Jungen auch schon lieb.
»Bleib heut zum Abend bei uns!« – Und er blieb.
»Komm wieder, wenn du nichts zu schaffen hast!«
Er kam und ward uns bald solch lieber Gast,
daß, abends, wenn die sechste Stunde schlug,
schon alt und jung nach unsern Freundchen frug.
Dann ging's zum Essen – heißa, wie's ihm schmeckte!
Doch nascht' er nicht, und stets nur schüchtern nippen
sah ich am Weine seine frischen Lippen,
indes die Hand sich oft zum Brote streckte,
wenn ich zum Braten schielte. War zu dünn
die Butter auf dem Brot mir – er nahm's hin;
war mir zu Wunsch das Heringsstück nicht ganz –
er lacht' mich aus und aß vergnügt vom Schwanz,
und wollt' auch sonst mir dies und das nicht passen,
und konnt' ich meine Kindereien nicht lassen:
mitunter ernst, weit öfter doch im Scherz,
sprach er zu mir, doch immer grad ins Herz,
bis mich die Sache schließlich anders grämte
und ich dahinter kam, daß ich mich schämte.
So, wenn behaglich sich am Tischesrand
zum Plaudern groß und klein zusammenfand,
der Lampe mildes Licht darüber blickte
und kindlich, schelmisch, rot und kerngesund
von drüben uns mit seinem feinen Rund
sein lieb Gesicht aus vollen Locken nickte –
uns mutet's an, als ob unmöglich wär
jedweder Unfried, saß am Tisch auch er,
noch wärmer schien der kleinen Lampe Schimmer,
noch wohnlicher das traute Zimmer.

So glich er einem jener guten Holden,
die nach der Alten freundlichem Bericht
dem, den sie lieben, Herd und Haus vergolden,
und lächelnd sah der Vater ins Gesicht
der Mutter, die sein Walten recht erkannte,
wenn sie ihn wohl den kleinen Hausalb nannte.

Und das noch weiß von dir ich, Theodor:
Du logst nicht. Kam's nach unsern wilden Streichen
mitunter mir doch gar zu rätlich vor,
beim Referat ein bißchen abzuschleichen –
du bliebst, und traf's dich noch so bitterlich,
stets kerzengrade, stramm und ritterlich,
du warfst, mocht's klug nun oder unklug sein,
dein ganzes Menschlein in dein Wort hinein.

Nur einmal logst du doch.

Zu Neujahr war's.
Die Welt lag rings in weißer Eisespracht,
da feierten mit lust'ger Schneeballschlacht
wir Jungen das Geburtstagsfest des Jahres.
Auf einer Burg von hartgefrornem Sand
hielt ich und du dem Feindesdrängen stand.
Da, in der Hitze, warf ein roher Tropf
ein Eisstück dir von hinten auf den Kopf.
Ich achtet's kaum, und wacker warf ich zu,
nach einem Weilchen aber rauntest du
mir leis ins Ohr: »Hör du, ich will nach Haus,
mir wird so schwindlig – halt nur tapfer aus!«
Du gingst. Ich kämpft ein halbes Stündchen fort,
doch endlich litt's auch mich nicht länger dort,
auch ich ging weg. Ich klopfte bei dir an.
Du lagst im Bett, als ich ins Zimmer guckte!
Die Eltern standen um den Arzt – der zuckte
die Achseln: »Glaubt, er hat gelogen, Mann:
kein Zufall war's, das hat ein Bursch getan« –
Da sahst du mich. Du gabst mir rasch die Hand,
bogst dich dann heimlich winkend zu mir vor,
(so blinzelnd sah ich oft dein Auge schaun,
Knabengeheimnisse mir zu vertraun)
und bittend flüstertest du mir ins Ohr,
daß keiner rings es hörte: »Ferdinand,
sag nicht, wer's war!« Und ruhig schliefst du ein,
auf ewig ein...
Mein kleiner Freund, er ruht nun dreißig Jahr,
und heut erst fühl ich ganz, wie schön er war!

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