Johann Gottfried von Herder

Amor und Psyche auf einem Grabmal

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
  Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
  Und schwinden wir
Und messen unsre trägen Tritte
  Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen's nicht) in Mitte
  Der Ewigkeit.

Nach manchem voller Müh und Sehnen
  Verseufztem Jahr
Umarmte sich in frohen Thränen
  Ein liebend Paar.
Der Mond sah freundlich auf sie nieder;
  Ein zarter Ton
Aus allen Büschen hallte wider:
  »Endymion!

Ach, daß uns ewig, ewig bliebe
  Der Augenblick!
Im ersten holden Kuß der Liebe,
  Das reinste Glück!«
Verstummend, halbvollendet weilte
  Das süße Wort;
Die Seel' auf Beider Lippen eilte,
  Sie eilte fort.

Denn sieh, ein Engel schwebte nieder
  Zu ihrem Kuß
(Gold, himmelblau war sein Gefieder),
  Ihr Genius.
Berührend sie mit sanftem Stabe,
  Sprach er: »Erhört
Ist Euer Wunsch. Dort überm Grabe
  Liebt ungestört!«

Entschwungen auf dem Hauch der Liebe,
  In reinstem Glück,
Gewiß, daß ihnen ewig bliebe
  Der Augenblick,
Auf amaranthnen Auen schwebte
  Das holde Paar
Mit Allem, was je liebt' und lebte
  Und glücklich war.

Mit Allem, was in Wunsch und Glauben
  Sich je erfreut,
Genossen sie in vollen Trauben
  Unsterblichkeit.
Des Weltalls süße Symphonieen
  Umtönten sie;
Der Liebe süße Harmonieen
  Durchwallten sie.

»Wollt Ihr zurück in jene Ferne
  Auf Euer Grab?«
Sie sahn vom Himmel goldner Sterne
  Zur Erd' hinab.
»O Genius, die Zeit danieden
  Ist träge Zeit;
Ein Augenblick hier giebt uns Frieden
  Der Ewigkeit.«

Sahst Du auf jenem Grabeshügel
  Die Liebenden?
Der erste Kuß gab ihnen Flügel,
  Den Seligen.
Und daß ein Bild von ihnen bliebe
  Im ew'gen Kuß,
Verewigte hier Seel' und Liebe
  Der Genius.

(1796)

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