Nikolaus Lenau

Weihnacht

O Nacht des Mitleids und der Güte,
die auf Judäa niedersank,
als einst der Menschheit sieche Blüte
den frischen Tau des Himmels trank!

O Weihnacht! Weihnacht! höchste Feier!
Wir fassen ihre Wonne nicht,
sie hüllt in ihre heil'gen Schleier
das seligste Geheimnis dicht.

Denn zöge jene Nacht die Decken
vom Abgrund uns der Liebe auf,
wir stürben vor entzücktem Schrecken,
eh' wir vollbracht den Erdenlauf. –

Der Menschheit schmachtendes Begehren
nach Gott; die Sehnsucht, tief und bang,
die sich ergoß in heißen Zähren,
die als Gebet zum Himmel rang;

Die Sehnsucht, die zum Himmel lauschte
nach dem Erlöser je und je;
die aus Prophetenherzen rauschte
in das verlass'ne Erdenweh;

Die Sehnsucht, die so lange Tage
nach Gott hier auf der Erden ging
als Träne, Lied, Gebet und Klage:
Sie ward Maria – und empfing.

Das Paradies war uns verloren,
uns blieb die Sünde und das Grab;
da hat die Jungfrau Ihn geboren,
der das Verlor'ne wiedergab;

Der nur geliebt und nie gesündet,
Versöhnung unsrer Schuld erwarb,
erlosch'ne Sonnen angezündet,
als er für uns am Kreuze starb.

Der Hohepriester ist gekommen,
der lächelnd weiht sein eignes Blut,
es ist uns der Prophet gekommen,
der König mit dem Dornenhut.

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